32

exhibition

„Ist das Glas halb voll oder halb leer?“ – lautet eine altbekannte Frage, die auf eine grundsätzliche Lebenseinstellung zielt. Aber wer würde schon Letzteres behaupten? Es geht vielmehr, so der grüne Politiker und Bundesminister Robert Habeck, um eine „Erweiterung von Möglichkeiten“. Und eben diese grundsätzlich optimistische Haltung vertrat er mit großem Engagement, Emotionalität und rhetorischer Entschlossenheit bei seiner Rede auf dem Landesparteitag der Grünen in Karlsruhe im November 2023.

Dieter Kiesslings (geb. 1957) neustes Video „The Expansion of Possibilities“ (2023) zeugt ebenfalls von dieser Energie, der zuversichtlichen Haltung und überträgt sie aus dem Feld der Politik auf die Kunst. Ist der Berlin-Düsseldorfer Künstler ansonsten für seine selbstbezüglichen, manchmal sogar zirkulären Videos und Fotos bekannt, so schlägt er mit dieser Arbeit erstmals den Weg in die politische Kunst ein – in der Betonung beider Komponenten. Seine raumgreifende Arbeit begnügt sich dabei nicht mit der akustischen Dokumentation einer politischen Meinung. Sie baut in ihrer Größe und der unerwarteten motivischen Konzentration auf das Wasserglas des Redners vielmehr eine Spannung zwischen dem Politischen und dem Ästhetischen auf. Seine Eingriffe sind gering und schwerwiegend zugleich: neben der Verkürzung des Textes ist es die ausschnitthafte Konzentration auf eine überdimensional projizierte, fast malerisch anmutende Vergrößerung des Wasserglases, das neben dem Redner stehend diesen fragmentiert, spiegelt und (ironisch?) in schwarzen, grünen und Haut-Farben bricht.

Dass der Professor für Medienkunst an der Kunsthochschule Mainz darüber hinaus auch andere sehr intelligente, medienspezifische Filme mit Alltags- und Gegenwartsbezug gemacht hat, belegen die in der Ausstellung ebenfalls präsentierten Videos wie „The Red Train“ oder die gleichermaßen vielschichtige wie kluge Arbeit „o.T.“ (2023), die eine scheinbar grenzenlose Vertiefung des Bildraums auf der Oberfläche eines Smartphones zeigen, die überraschend schließlich doch zu einem Ende führt.

Außerdem zeigt Kiesslings erste Ausstellung in der Galerie Taubert Contemporary zahlreiche fotografische Bilder, die ein weiteres Standbein seines Schaffens ausmachen. Sie reflektieren vielfach – wie z.B. in den „Body Series“ oder den „Direct Series“ – den Prozess, einen performativen Vorgang des Fotografierens, bei dem das Individuum, in diesem Fall: das Selbstporträt des Künstlers, hinter dem Medium zu verschwinden scheint. Auch in diesen, etwas früheren Bilder zeigt sich bereits eine Verfremdung des Dokumentarischen, die sich in der jüngsten „Expansion of Possibilities“ eine politische Aufladung gewinnt.

Ist also letztlich einfach nur unser binäres Denken – halb voll/leer, Kunst/Leben, Ästhetik/Politik etc. – ein falsches Konstrukt? Möglichkeiten, das zeigt uns Kiessling, weisen offenbar darüber hinaus.
– Stefan Gronert

Dieter Kiessling *1957 geboren in Münster, Deutschland
Lebt und arbeitet in Berlin, Deutschland

Cookie Consent mit Real Cookie Banner